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Frage

Guten Tag,


ich schreibe Ihnen, weil ich gerne Genaueres über die Spiritualität der heiligen Therese von Lisieux wissen möchte. Neulich habe ich „Die Geschichte einer Seele“ und einige Bücher über ihr Denken gelesen und habe den Eindruck die Heilige bekräftigt, dass man die eigene Kleinheit akzeptieren und sogar lieben muss, sowie die Tatsache, keine hohen Ziele erreichen zu können, deshalb aber nicht verzagen soll sondern alles bestmögliche tun und sich der göttlichen Barmherzigkeit anvertrauen soll.

Wenn dies nun die Denkweise der Heiligen ist, so scheint es mir, dass sie ganz im Gegensatz zu den Werten der heutigen Gesellschaft steht, wo vorwiegend Erfolg, hohe Leistungen und das Vertrauen auf die eigene Kraft, um dies zu erreichen, auch auf Kosten anderer, zählen.

Außerdem scheint mir, dass im Katholizismus für die Errettung die Werke sehr wichtig sind, so dass sich meines Erachtens die Denkweise der Heiligen eher der der Protestanten nähert, die die Errettung allein durch den Glauben hervorheben, denn die heilige Therese sagt: „Am Ende dieses Lebens werde ich mit leeren Händen vor Dir erscheinen”.

In der modernen Psychologie schließlich preist die Maslowsche Bedürfnispyramide die Bedeutung der Wertschätzung anderer als ein typisch menschliches Bedürfnis an, und in der Tat ist der Mensch sehr daran interessiert, Lob und Beifall zu erhalten, während die Heilige sagt, dass es im Leben darauf ankommt, auch kleine, aber aus Liebe begangene Taten zu vollbringen, ohne dafür Anerkennung zu erhalten.

Nun glaube ich aber, dass die Heilige, obwohl sie im Leben nicht viel erreicht hat, doch sehr zufrieden und im Einklang mit sich selbst lebte, weswegen ich mich frage, wie man ihrer Spiritualität konkret folgen kann, wenn die Werte der heutigen Gesellschaft das genaue Gegenteil darstellen und das Bedürfnis, von anderen geschätzt zu werden, in der menschlichen Seele so sehr eingeprägt ist.

Ich danke Ihnen.


Antwort des Priesters

Lieber Besucher,


1. zunächst einmal freut es mich, was du über die heilige Therese gelesen hast, insbesondere „Die Geschichte einer Seele“.

Man verspürt reine Freude, wenn man der heiligen Therese vom Kinde Jesu nahe ist, und diese Freude kommt wahrscheinlich daher, dass man sich in die wahre Welt versetzt fühlt, in die Gegenwart Gottes, in die Gegenwart Jesu.

Und gleichzeitig fühlt man sich angespornt, das zu tun, was sie getan hat, das zu verewigen, was wir im Laufe der Zeit vollbringen.

2. Was deine Fragen betrifft, lassen sie sich wie folgt zusammenfassen: Wie können wir den kleinen Weg der heiligen Therese befolgen, wo wir doch in einer Gesellschaft leben, die in eine diametral entgegengesetzte Richtung läuft?

3. Als Erstes weist du darauf hin, dass wir in einer erfolgsorientierten Gesellschaft leben, in der wir uns auf unsere eigene Kraft verlassen, um hohe Ziele zu erreichen.

Nun, ich würde sagen, dass auch die heilige Therese Erfolg und hohe Ziele anstrebte.

Aber ich möchte hinzufügen, dass sie den wahren Erfolg, die höchste Leistung, das allerhöchste Ziel erreichen wollte.

Es ist ein Erfolg, der ewig währt und der Grund für die größte und dauerhafteste Freude ist.

4. Des Weiteren stellst du fest, dass die Lehre der heiligen Therese eher der der Protestanten als der der Katholiken entspricht.

In diesem Punkt kann ich dir nicht zustimmen, denn das Leben der heiligen Therese von Lisieux war aus Taten der Nächstenliebe durchdrungen, eine schöner als die andere.

Beeindruckt von der Aussage des heiligen Paulus, die Kirche sei wie ein Leib mit vielen Gliedern, von denen jedes eine wichtige Funktion hat, wollte Therese für sich selbst die wichtigste Funktion von allen, ohne die der ganze Organismus nicht bestehen kann, nämlich das Herz.

Sie wollte, dass jede ihrer Handlungen den verschiedenen Gliedern der Kirche die Kraft verleiht, die eigene Aufgabe zu erfüllen.

Ich übertrage hier eine der erhabensten Seiten der Geschichte einer Seele: “Während des Gebets ließ mich mein Verlangen ein wahres Martyrium erleiden: ich öffnete eines Tages die Briefe des heiligen Paulus, um irgendein Heilmittel für meine Qual zu suchen. Die Kapitel 12 und 13 des ersten Briefes an die Korinther fielen mir unter die Augen. Dort las ich, dass nicht alle zugleich Apostel, Propheten und Kirchenlehrer sein können, dass die Kirche sich aus verschiedenartigen Gliedern zusammensetzt und dass das Auge nicht zugleich Hand sein kann (1. Kor 12, 28-31). Die Antwort war klar, aber sie erfüllte meine Wünsche nicht und gab mir nicht den Frieden.

Wie Magdalena sich immer über das leere Grab beugte und schließlich fand, was sie suchte, so erniedrigte ich mich bis in die Tiefe meines Nichts und erhob mich so hoch, dass ich mein Ziel zu erreichen vermochte“ (Johannes vom Kreuz). Und ohne mich zu entmutigen, setzte ich die Lesung fort und fand den Ratschlag, der mich tröstete: „Strebet eifrig nach den vollkommeneren Gaben, aber ich werde euch einen noch weit vorzüglicheren Weg zeigen“ (1. Kor 12, 31). Und dann erklärt der Apostel, wie auch die vollkommensten Gaben nichts sind ohne die LIEBE – dass die Nächstenliebe der ausgezeichnetste Weg ist, um sicher zu Gott zu gehen” (Geschichte einer Seele, 253).
“Endlich hatte ich Ruhe gefunden. Als ich den mystischen Leib der heiligen Kirche betrachtete, hatte ich mich in keinem der vom heiligen Paulus beschriebenen Glieder erkannt. Oder besser gesagt: ich wollte mich in allen erkennen. 

Die Nächstenliebe hat mir den Schlüssel meiner Berufung gegeben. Ich begriff, dass, wenn die Kirche einen aus verschiedenen Gliedern zusammengesetzten Körper hat, das notwendigste, das edelste von allen Organen ihr nicht fehlt. Ich verstand, dass sie ein Herz hat, und dieses Herz glüht von Liebe

Ich verstand, dass die Liebe allein die Triebkraft der Glieder ist – dass, wenn die Liebe erlöschen sollte, die Apostel das Evangelium nicht mehr verkündigen und die Märtyrer sich weigern würden, ihr Blut zu vergießen.…
Ich begriff, dass die Liebe alle Berufungen in sich einschließt, dass die Liebe alles ist, dass sie alle Zeiten und Orte umfasst, weil sie ewig ist! 

Im Übermaß meiner Freude rief ich aus: „O Jesus, meine Liebe, endlich habe ich meine Berufung gefunden! Meine Berufung ist die Liebe!
Ja, ich habe meinen Platz im Schoße der Kirche gefunden, und diesen Platz, o mein Gott, hast Du mir gegeben: im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein!…
Auf diese Weise werde ich alles sein… So wird mein Traum verwirklicht werden!“ (Geschichte einer Seele, 254).

5. Zum Schluss erkennst du, dass die Menschen nach Anerkennung durch andere suchen, während die heilige Therese Demut und Verborgenheit anstrebte.

Auch die heilige Therese strebte nach Ansehen, aber nicht so, wie die Menschen dieser Welt es tun.

Für sie war es ein Akt der Nächstenliebe: Sie tat alles, was in ihren Kräften stand, nicht nur aus Liebe zu Gott, sondern auch, damit ihre Nächsten nicht die geringste Entschuldigung für einen Mangel an Nächstenliebe haben würden.

6. Zur Maslowschen Pyramide ist zu sagen, dass diese die Bedürfnisse des Menschen nach den Kriterien der Welt katalogisiert.

Aber die heilige Therese hat sich nichts aus den Kriterien der Welt gemacht, Kriterien die oft mehr Unruhe als Zufriedenheit erzeugen.

Die Welt kann nicht verstehen, wie ein Mensch dazu kommen kann, sich den Plan der Nachahmung Christi eigen zu machen: „Der es liebt, nicht bekannt und für einen Taugenichts gehalten zu werden“ (ama nesciri et pro nihilo reputari).

Für die Welt ist dies ein Wahnsinn.

Für die heilige Therese hingegen waren die Kriterien der Welt Wahnsinn.

7. Sie war glücklich, ihre eigene Schwäche einzugestehen.

Ihre Oberin Mutter Agnes berichtet, dass sie eines Tages sagte: “Ich empfinde eine sehr lebendige Freude, nicht nur darüber, dass sie mich für unvollkommen halten, sondern vor allem darüber, dass ich mich selbst unvollkommen fühle und im Moment des Todes die Barmherzigkeit des lieben Gottes brauche.”
Über sich selbst schreibt sie: “Ich bin das kleinste aller Geschöpfe, ich kenne meine Armseligkeit, aber ich weiß auch, wie gerne edle und großmütige Herzen Gutes tun. Ich beschwöre euch also, ihr seligen Bewohner der himmlischen Stadt, nehmet mich als euer Kind an! Die Herrlichkeit, die ihr mir erwerben helfet, wird auf euch allein zurückfallen. Erhöret gnädig mein Gebet und erlanget mir, ich flehe euch darum an, eure zweifache Liebe” (Geschichte einer Seele, 255).
Hier geht es, wie du siehst, um jene Demut, die einen Gottgefällig macht und die gerade deshalb nach den größten Dingen strebt.

8. Die Heilige Schrift wirft ein starkes Licht auf deine Fragen, wo sie sagt: “Der irdisch gesinnte Mensch aber erfasst nicht, was vom Geist Gottes kommt. Torheit ist es für ihn und er kann es nicht verstehen, weil es nur mit Hilfe des Geistes beurteilt werden kann.” (1 Kor 2,14).

Die heilige Therese hingegen beurteilte die Kriterien der Welt von einer höheren Ebene aus, nämlich der des Geistes Gottes.

Die Fähigkeit, nach dem Geist Gottes zu urteilen, verlieh ihr absolute Überlegenheit. Sie wusste, dass sie das Wichtigste besaß, was zählt, nämlich den Blick Gottes.

Ich wünsche dir den zweifachen Geist der Heiligkeit der heiligen Therese, um ewig die wahre Größe, die des Paradieses, besitzen zu können.

Dafür versichere ich dir mein Gebet und segne dich.

Pater Angelo