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Frage

Lieber Padre Angelo,

unser Herr Jesus Christus ermahnt uns, unseren Bruder nicht zu verurteilen. Aber was ist damit gemeint? Für mich ist es in bestimmten Situationen wichtig, mehr oder weniger verlässliche Einschätzungen über Menschen abzugeben, um abzuwägen, wie sehr man ihnen vertrauen kann oder beispielsweise bei  Bischöfen, um zu sehen, ob der Kandidat für das Priesteramt wirklich geeignet ist. Wir sind jedoch nicht in der Lage, in Herzen zu lesen, daher müssen diese „Bewertungen“ mit großer Demut und nach ausreichender Datensammlung erfolgen.

Urteilen bedeutet für mich, diesen Bewertungen eine innere Verachtung hinzuzufügen, eine Verachtung für den Bruder, die immer von Stolz provoziert wird, weil man sich in diesem Moment ihm in etwas überlegen fühlt. Vielleicht aber begeht man eine Urteilssünde auch, wenn man oberflächliche und ungefähre Einschätzungen ausspricht, die daher zu übereilte Urteile und deshalb zu Sünden führen.

Ich möchte mir darüber mehr Klarheit verschaffen, weil ich weiß, wie viel Schaden diese Sünden denen, die sie begehen und denen, die sie erleiden, zufügen können. Infolgedessen ist es notwendig, über die richtigen ,,Waffen“ zu verfügen, um sie zu bekämpfen.

Herzliche Grüße

Alessandro


Antwort des Priesters:

Lieber Alessandro,

1. Du hast die Worte des Herrn korrekt  interpretiert.

Der Herr selbst hat uns die Intelligenz gegeben, durch die wir vieles beurteilen können. Wenn wir jemanden fluchen hören, können wir nicht sagen: ich weiß nicht, was er gesagt hat. Das wäre Torheit. 

Durch unsere Intelligenz und dem Wissen, treffen wir Urteile.

2. Wenn wir also schlechtes Benehmen bemerken, können wir nicht einfach sagen: ich habe weder gesehen, noch gehört. Und in dem, von dir vorgetragenen Fall, besteht auch die Pflicht, dies den zuständigen Personen zu melden.

Ebenso ist es angebracht, Informationen über bestimmte Personen einzuholen, bevor man ihnen eine Aufgabe anvertraut.

Da ist Vorsicht geboten. Klugheit ist jene Tugend, die der moralischen Wahrheit gemäß handelt. Der Herr selbst legt viel Wert darauf. Er lehrte uns nämlich, arglos wie Tauben zu sein, aber auch klug wie Schlangen, die ständig ihren Kopf zu drehen scheinen, um die Situation im Auge zu behalten. 

3. Der Hl. Thomas von Aquin kommentiert so die, in der Bergpredigt ausgesprochenen Worte des Herrn „Richte nicht, damit du nicht gerichtet wirst“ (Mt 7,1):

„Zuerst befiehlt er, keine leichtsinnigen Urteile zu fällen”, deswegen sagt er: Urteilt nicht, mit Bitterkeit und Hass.

Oder Er sagt: Urteilt nicht in Bezug auf Dinge, die nicht eurem Urteil unterliegen. Das Urteil steht nur Gott zu. Uns hat Er die Beurteilung von Äußerlichkeiten anvertraut, während Er das Urteil Innerlichkeiten für sich behielt. In Jeremia 17.9 lesen wir: Arglistig ohnegleichen ist das Herz und unverbesserlich. Wer kann es ergründen? Niemand verurteile nämlich jemanden, indem er ihn für einen schlechten Menschen hält: im Zweifelsfall  muss etwas immer positiv interpretiert werden (in meliorem partem).

4. Deshalb verbietet uns der Herr ohne Grundlage, schlecht über unseren Nächsten zu denken (übereiltes Urteil), das Werk anderer mit schlechtem Herzen zu interpretieren und es aus Hass oder Neid heraus zu beurteilen.

Damit wir im Gericht Gottes Barmherzigkeit und Vergebung verdienen können, will Jesus nicht, dass wir uns zum bösen und strengen Richter unseres Nächsten machen, denn ,, wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden“ (Mt 7,2).

Ich versichere dir mein Gebet und segne dich.

Liebe Grüße

Padre Angelo

Übersetzt von Maichol